Ästhetische Prinzipien

Aus der Gegenüberstellung von westlicher Kunst, westlicher Floristik und Ikebana lassen sich die ästhetischen Prinzipien der japanischen Blumenkunst ableiten, die für ihre praktische Ausübung von grundlegender Bedeutung sind.

Kunst strebt immer nach dem Schönen, will das Schöne zum Ausdruck bringen. Das Schöne aber ist das Natürliche, denn die Natur zeigt uns, was wirklich schön ist. Kunst und ganz besonders die Kunst des Ikebana ist daher vor allem Nachahmung der Natur. Das ist im Abendland beinahe in Vergessenheit geraten. Denn hier wird Kultur als Beherrschung der Natur und Kunst als gestalterische Überwindung der Natur verstanden. In der japanischen Kunstauffassung aber ist die Natur von grundlegender Bedeutung. Der Japaner weiss sich der Natur verbunden; er begegnet ihr mit Respekt, ja mit Ehrfurcht. Wer ein Ikebana arrangiert, betrachtet das natürliche Wachstum der Pflanze und lässt sich in seinem Schaffen und Gestalten von den natürlichen Eigenschaften der Blumen und Pflanzen leiten.

Indem sich der Künstler von der Natur leiten lässt, sie gewissermassen meditierend betrachtet, vermag er ihr Wesen, ihre Harmonie zu fühlen, zu erleben, zu begreifen. Diese innere Haltung befähigt ihn zu einer künstlerischen Gestaltung, die sich ganz im Einklang mit der natürlichen Harmonie weiss und so die Harmonie selbst zum Ausdruck bringt. Im Ikebana vereinigen sich Form und Farbe der Blumen und Zweige, der Blüten und Blätter mit dem Gefäss, mit dem Raum, mit der Stimmung des Künstlers.

Die Natur ist die Richtschnur des Schönen. Nachahmung der Natur bedeutet Beschränkung auf das Wesentliche. Prunkvolles Übermass, Verzierungen und dekorative Elemente sind zu vermeiden. Wie in der Natur, wo nichts zuviel ist, aber auch nichts fehlt. Ein gelungenes Arrangement zeichnet sich durch subtile Einfachheit und Schlichtheit aus.

Das Ideal der japanischen Blumenkunst ist die Natürlichkeit. Im Ikebana gibt es kein Gleichgewicht, sondern Dynamik, Lebendigkeit. Gleichförmigkeit und Symmetrie wirken für den Japaner bedrückend, langweilig. Das Natürliche ist schön und vollkommen, aber nicht abgeschlossen, fertig und vollendet. Als schön empfunden wird nicht dasjenige, das einem abstrakten ästhetischen Ideal am nächsten kommt, sondern dasjenige, dem etwas fehlt, das noch im Werden begriffen ist. Denn die Natur ist ein ständiges Entstehen und Vergehen. Entstehen ist das Werden von Etwas aus dem Nichts. Daher hat im Ikebana auch der freie Raum als der Ort, wo nichts ist, einen bedeutenden Stellenwert. Eine Knospe wirkt oft viel schöner und eleganter als eine prachtvolle Blüte.

Den Europäer mag es zunächst befremden, dass der Ikebanakünstler so viel Energie und Zeit auf ein Werk verwendet, das nur eine Lebensdauer von wenigen Tagen hat; strebt doch der europäische Künstler, bewusst oder unbewusst, letztlich nach Unsterblichkeit in dieser Welt. Der Künstler will sich in seinem Werk verewigen. Von diesem eitlen Ehrgeiz muss sich befreien, wer ein Blumenarrangement erschafft.

Wenn sich Ikebana heute nicht nur in Japan, sondern auch in Europa grosser Beliebtheit erfreut, sei die Frage gestattet, was an dieser Kunst so faszinierend ist. Eine Antwort darauf versucht Ikenobo Sen’ei zu geben, wenn er sagt: „Die Sehnsucht nach schönen Dingen; der Wunsch, schön zu sein; der Drang, Dinge zu verschönern; das Bemühen, etwas Schönes zu schaffen – alle diese Leidenschaften und Beweggründe sind tief verwurzelt in der Natur des Menschen. Wilde Pflanzen und Bäume in der freien Natur unterliegen einem ewigen Wandel, in welchem sich die harmonische Ordnung des Seins offenbart. Wenn wir, die wir unserem Wesen nach an diesem Sein teilhaben, die naturbedingten Veränderungen bei Bäumen und Pflanzen wahrnehmen, sind unsere Seelen von Grund auf ergriffen und aufgewühlt. Das ist der Augenblick des Glücks, des Trosts und der Hoffnung. Gerade so wie die Künstler, die Kalligraphien schreiben oder Gemälde fertigen oder Gedichte verfassen, lauschen wir den unausgesprochenen Worten von Blumen und Zweigen und nehmen in ihnen die unsere Seelen bewegende Schönheit wahr, die wir im Ikebana sichtbar machen wollen.“

Ikebana ist ein Weg, auf welchem sich der Schüler von seinem Meister führen lässt. Die Japaner haben für Ikebana auch das Wort Kado: Weg der Blumen. Das heisst, dass diese Kunst dem Schüler mehr sein muss als nur Zeitvertreib. Ikebana als Kado ist ein Lebensweg, ein lebenslanges Lernen. Hierfür muss man innerlich bereit sein. Ohne diese innere Bereitschaft wird man sich bald vom Ikebana abwenden.

Kado heisst aber auch, dass Ikebana nicht nur eine bestimmte Technik ist, obwohl es im Ikebana feste Regeln gibt, mit denen sich der Schüler allmählich vertraut machen wird. Da jedoch mit lebendigem Material gearbeitet wird, mit Blumen und Zweigen, bleibt genug Raum für freie Gestaltung. Wesentlich ist, ein Gespür für die schlichte Schönheit und asymmetrische Harmonie des Natürlichen zu entwickeln und im Gestalten auszudrücken – ein Bild zu malen oder ein Gedicht zu schreiben, das aus Blumen besteht.

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